Ein offener Brief aus Kanada

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Mit dem Votum über das Abkommen über die Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft zwischen der Europäischen Union und den USA (TTIP), das am 10. Juni im Europäischen Parlament verschoben wurde, steht die Europäische Union am Abgrund einer weitreichenden Entscheidung. Im Hintergrund lauert noch eine weitere wichtige Entscheidung zum umfassenden Wirtschafts- und Handelsabkommen zwischen der EU und Kanada (CETA).

Wir Kanadier schreiben Ihnen, den Sozialisten, der Europäischen Linken und den Grünen, weil es in Ihrer Macht steht, diese gefährlichen Handelsabkommen zu stoppen. Bei dieser Art von Handelsabkommen haben wir die Wahl: Akzeptieren wir die steigende Ungleichheit, die ungebremste Macht von Unternehmen und die sinkenden Sozial- und Umweltstandards, was dem einen Prozent erlaubt, auf unsere Kosten noch reicher zu werden, oder ziehen wir eine Linie in den Sand?

Als Kanadier haben wir mit dieser Art von Abkommen Erfahrungen aus erster Hand gesammelt, da wir das Nordamerikanische Freihandelsabkommen (NAFTA) mit den USA und Mexiko unterzeichnet haben. Und darüber haben wir einiges zu berichten.

1988 sind viele von uns auf die Straße gegangen, um gegen das Freihandelsabkommen zwischen Kanada und den USA zu kämpfen, das später auf Mexiko ausgeweitet wurde. NAFTA enthielt eine der ersten Bestimmungen für Investitionsschiedsverfahren, die berüchtigte Klausel, die es ausländischen Unternehmen erlaubt, Regierungen auf entgangenen Gewinn zu verklagen. Wir fürchten, dass wir unser öffentliches Dienstleistungswesen, unser Wasser und unsere Umwelt- und Sicherheitsstandards verlieren.

Der Freihandel war bei der Wahl 1988 ein beherrschendes Thema in Kanada. Obwohl eine Mehrzahl der Kanadier gegen das Abkommen gestimmt hatte, kam aufgrund unseres Mehrkampfwahlrechts eine konservative Regierung an die Macht, die das Abkommen unterzeichnete.

Heute - 27 Jahre später - haben wir in Kanada mit mehr Investitionsschiedsverfahren zu kämpfen, als irgendein anderes Industrieland.

Selbst der geschichtsträchtige Sankt-Lorenz-Strom, der Fluss, über den die europäischen Siedler Kanada erschlossen haben, ist davon betroffen. Die Provinz Quebec hatte ein Moratorium über die Erdölgewinnung auf dem Fluss verhängt, um Hydraulic Fracturing (Fracking), ein umstrittenes Extraktionsverfahren, das in Frankreich und anderen Ländern verboten ist, zu verhindern. In der Folge wurde die kanadische Regierung von einem Unternehmen auf 250 Millionen Dollar verklagt, das seinen Firmensitz in Kanada hat, aber in den USA registriert ist.

In der Zwischenzeit hat in der kleinen Ortschaft Digby, einem malerischen Fischerort in der Nähe der beliebten Bay of Fundy, ein gemeinsames Gremium von Bund und Provinz nach einer gründlichen Umweltprüfung einen Steinbruch abgelehnt. Die kanadische Regierung hat dafür bezahlen müssen, denn das Unternehmen, Bilcon, hat ein Investitionsschiedsverfahren angestrengt und gewonnen.

In der Provinz Neufundland und Labrador, ebenfalls an der Ostküste, gab es früher einen Plan für Wirtschaftsentwicklung, der von Ölunternehmen einen Beitrag zur Erdölforschung forderte. Die Investitionsschiedsrichter entschieden, dass diese Anforderung die Gewinnerzielung behindert und Kanada zahlte 17,3 Millionen Dollar.

Kanadier wurden der Möglichkeit beraubt, sich selbst zu verwalten, wie sie es für richtig erachten.

EU-Handelskommissarin Ceclia Malmström und der Ausschuss der EU für internationalen Handel haben gesagt, dass die Investitionsschutzbestimmungen reformiert werden - zumindest in TTIP. Sie versprechen, die Investitionsschiedsrichter, denen oft vorgeworfen wird, dass sie unter dem Einfluss der Investoren stehen, durch unabhängige Richter zu ersetzen. Aber wie der kanadische Gelehrte Gus Van Harten geschrieben hat, stärken Investitionsschiedsgerichte immer die Rechte von Investoren. Sie geben Unternehmen rechtlich verbriefte Rechte, in deren Genuss Staatsbürger oder die Umwelt nicht in gleichem Maße kommen.

Europäer dürfen auch nicht vergessen, dass der kanadische Handelsminister Ed Fast kundgetan hat, dass das CETA-Abkommen im Kasten ist. Das bedeutet, dass es mit den Investitionsschutzbestimmungen in Kraft treten wird, die wir in Kanada kennen und fürchten. Sobald das Abkommen in Kraft getreten ist, gibt es nichts, was amerikanische Unternehmen daran hindert, sich in Kanada registrieren zu lassen und ihre gefürchteten Klagen von dort aus anzustrengen.

Um TTIP zu stoppen, müssen Sie zuerst CETA stoppen.

Unsere Regierungen haben versprochen, dass CETA neue Arbeitsplätze schaffen wird. Unsere Regierung spricht von 80,000 neuen Arbeitsplätzen, eine Zahl, für die keine Quelle zu finden ist. Wir haben das alles schon bei NAFTA gehört. Der Kanadier Murray Dobbin schreibt dazu: „Ende der Neunziger Jahre hat Kanada wegen NAFTA hundert Tausende hoch dotierter Industriearbeitsplätze verloren. Die Handelsdaten sehen heute noch viel schlimmer aus. In unserem größten Exportmarkt, den drei NAFTA-Ländern, hat Kanada gegenüber Mexiko kontinuierlich an Boden verloren".

Auf beiden Seiten des Atlantiks verkaufen Entscheidungsträger das Abkommen auf der Basis von positiven Stereotypen über einander. In Kanada werden Europäer als hochentwickelte, umweltbewusste Alliierte betrachtet, die uns keinen Schaden zufügen werden. CETA taucht im Gegensatz zu TTIP nicht auf dem Radar auf, weil Kanadier, im Gegensatz zu Amerikanern, ungefährlich, klein und machtlos erscheinen. Wie unser nationales Symbol, der Mountie, gelten wir als ernste, kooperative, gewaltlose Menschen, die weit weg unter Schnee und Eis leben.

Lassen Sie sich von diesem Eindruck nicht täuschen. Unsere Unternehmen, egal ob es sich um europäische oder kanadische handelt, sind von ihrem Wesen her darauf ausgerichtet, Geld zu verdienen. Sie versuchen, ihre Profite zu erhöhen und die Gunst ihrer Anteilseigner zu bewahren und sie werden sich dazu, ungeachtet der sozialen und Umweltkosten, aller verfügbaren Handelsabkommen bedienen.

Wie wir bei Handelsabkommen in aller Welt gesehen haben, sind Unternehmen stets begierig, sich wie ein Chamäleon eine nationale Identität zu beschaffen, um das Gewünschte zu bekommen. Es gibt zahllose sogenannte „amerikanische" Unternehmen mit Firmensitzen in Kanada, die die kanadische Regierung derzeit verklagen. Mit CETA braucht ein amerikanisches Unternehmen wenig mehr als ein Postschließfach, um in Kanada Fuß zu fassen und ein europäisches Land zu verklagen.

Die Vereinheitlichung der Regelungen gibt Industriegruppierungen die Möglichkeit, „unangemessene" Bestimmungen zu Lebensmittelsicherheit, GMOs und anderem leicht anzufechten. Die Regeln, die uns Schutz bieten, werden tagtäglich von Unternehmen zur Debatte gestellt.

Das übt auch Druck auf Regierungen aus, öffentliche Dienstleistungen zu privatisieren, die wichtige Träger gleicher, gebildeter und gesunder Gesellschaften sind. Wenn ein Industriezweig nicht ausdrücklich von einem Handelsabkommen ausgenommen ist, kann dieser, wenn er erst einmal privatisiert ist, und zukünftige Regierungen ihn wieder der öffentlichen Hand einverleiben wollen, Gegenstand von Gerichtsverfahren werden.

Die kanadische Ölindustrie bereitet sich darauf vor, Europäern Erdöl aus den Teersanden zu verkaufen. Unter Hinweis auf die unfaire Behandlung der Ölsande in Alberta durch die EU-Richtline über die Kraftstoffqualität hat die kanadische Regierung sich erfolgreich dafür eingesetzt, dass die führenden europäischen Umweltstandards aufgeweicht werden, nach denen dieses Öl als „schmutziges" Öl bezeichnet wird. CETA könnte weitaus mehr schmutziges Öl in die EU bringen.

Wie sich in verschiedenen Wahlen gezeigt hat, schreit Europa nach Wandel: mehr Demokratie, mehr Gleichheit und mehr Umweltschutz, die Ziele, die auch Ihre Parteien verfolgen. Diese Ziele lassen sich aber angesichts solch umfassender Handelsabkommen weder durch Worte allein noch durch Gesetzgebung erzielen. Diese Abkommen zu ignorieren, bedeutet, Ihre eigene Plattform aufzugeben und sich dem Willen der 1 Prozent zu unterwerfen.

Viele verlangen eine Linie im Sand. Diese Woche haben in München anlässlich des G7-Treffens 40.000 Menschen gegen TTIP protestiert und wurden zur Belohnung mit Pfefferspray besprüht. Zwei Millionen Menschen haben eine europäische Petition gegen TTIP (und CETA) unterschrieben und 97 Prozent der 150.000 von der Europäischen Kommission zurate Gezogenen haben die Investitionsschutzbestimmungen und die daraus entstehenden Unternehmensklagen.

Bürger sind immer besser informiert und weltgewandter. Während sich viele linke Parteien internen Fragestellungen widmen, suchen die Bürger nach visionären Führungspersönlichkeiten. Sie und wir hoffen, dass Sie zusammen arbeiten können, um für Europa einzutreten und für den Rest der Welt.

Maude Barlow ist die nationale Vorsitzende des Council of Canadians, einer Bürgerorganisation, die vor 30 Jahren gegründet wurde, um gegen das Freihandelsabkommen zwischen den USA und Kanada zu kämpfen. Sie ist eine ehemaligen UN-Beraterin und Empfängerin des Right Livelihood Award (des alternativen Nobelpreises).

Paul Moist ist der nationale Präsident der Canadian Union of Public Employees (CUPE), der mit 628.000 Mitgliedern größten Gewerkschaft Kanadas.

Foto: Council of Canadians

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source : Huffington Post

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